Tilo Nest hat in Wiesbaden schon Kult-Stücke herausgebracht. Jetzt lässt er es bei der ersten Premiere der Spielzeit ordentlich krachen. Warum man darauf vorbereitet sein sollte.
WIESBADEN. Ein kurzes Plädoyer für die Liebe steht auf dem Papier, das alles verändert. Ein Zauberspruch mit Sprengkraft. Denn die Liebe stürzt Athen binnen Minuten ins Chaos. Gerade noch hat Machthaber Theseus im Beisein der Kriegsbeute Hippolyta gespottet, dass er nicht „an diese Feenpossen“ glaube, dass „Verliebte und Verrückte beide von brausendem Gehirn“ seien. Und schon ist er weg vom Fenster. Und das alles, weil jetzt die Liebe zählt.
Tilo Nest, Mitglied des Berliner Ensembles und in Wiesbaden bekannt durch seine kultigen Inszenierungen von „Shockheaded Peter“ und Kehlmanns „Tyll“, lässt es in der ersten Premiere der neuen Spielzeit am Staatstheater mit Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ ordentlich krachen: Das ist alles andere als eine Feenposse. Der mutmaßlich für eine Hochzeit um 1595 geschriebene Klassiker wird mit Song-Zitaten und zeitgenössischem Slang ans Heute angedockt. Darin schillert der von Schlegel übersetzte Shakespeare umso mehr. Und das ist hier einer für Fortgeschrittene: Man sollte sich vorher mit dem Inhalt befasst haben. Dann wird der fast dreistündige Abend (mit Pause) einer, den man als Schatz nach Hause tragen kann. Es beginnt mit einer steilen These: Theseus Athen – das ist die grelle Dystopie eines autoritären Staates, in dem die Untertanen Nummern haben. „Jeder für alle, keiner für sich“ ist das Credo der in fromm-violetten Uniformen, unter denen verruchtes Rot schlummert, (Kostüme: Anne Buffetrille, Mirjam Ruschka) gleichgeschalteten Angehörigen eine Kaste, die es in eine Art Plenum geschafft haben. Dazu hat Bühnenbildner Robert Schweer ein spektakuläres, nach hinten aufsteigendes Forum geschaffen, auf jeder Stufe sterile Tischblöcke mit Mikrofonen. Das verschafft dem Stück später im Wortsinn Fallhöhe.
Noch während die Zuschauer ins Große Haus strömen, ist hier eine Putzkolonne zugange, unterbrochen von unverständlichem Megafongebelle: Durchsagen zum Durchsaugen. Unter der Schutzkleidung stecken die Handwerker, die gleich noch ihr Theaterstück von „Pyramus und Thisbe“ proben. Das ist ulkig und wird mit Mutterwitz zusammengehalten von „Petra“ Squenz – ein Wiedersehen mit der früher in Wiesbaden engagierten Ingrid Domann. Lena Hilsdorf, Philipp Steinheuser, Marlene-Sophie Haagen und Noah L. Perktold komplettieren den Trupp.
Theseus, „Nr. 1“, (Michael Birnbaum) bekommt dann Gegenwind von Hermia alias 1101, die nicht Demetrius (4008), sondern Lysander, die 3000, heiraten will, während Helena, 2003, sich in 4008 verguckt hat. Das Verwirrspiel wird noch auf die Spitze getrieben, weil es im Ensemble ein Zwillingspaar genau für solche Rollen gibt: Maria und Klara Wördemann. Ihnen zur Seite, gut besetzt: Lysander Paul Simon und Demetrius Tobias Lutze.
Das ist fast wie bei Roland Emmerich
Und dann passiert‘s: Das aufrührerische Liebes-Papier nutzt Tilo Nest dazu, sich als Roland Emmerich der Bühne zu erweisen. Alles bricht krachend auseinander. Kreuz und quer liegen die Bühnenbild-Trümmer. Damit sind wir also im zweiten Shakespeare‘schen Motiv, dem „Wald“. Auch hier: Weder Sommernachtsfirlefanz noch Feenposse. Eher ein abgekämpfter Oberon (Birnbaum macht sich gut in der Doppelrolle, in der er allerdings am Ende allein bleiben wird), der nicht nur das Kleeblatt glücklich machen, sondern auch seine Titania (Christina Tzatzaraki auch in einer Doppelrolle) vorführen will. Puck, der hier ein Droll ist, soll ihr und den Liebenden im Schlaf Saft von Zauberpflanzen in die Augen träufeln – was sie beim Aufwachen erblicken, macht sie schockverliebt. Das geht, wir wissen es, gründlich schief – und das nicht nur, weil der wunderbare Droll Rainer Kühn, mit seiner punkigen Irokesen-Frisur vermutlich ein Fall für die kulturelle Aneignungsdebatte, ihnen dazu die Mikrofone ins Auge rammt. So sind alle von der Liebe gezeichnet – Titania besonders, die Zettel hier nachhaltig verfällt. Der ist statt mit Eselskopf einfach animalisch nackig. Die anderen tun nur so mit fleischfarbener Unterwäsche.
Wie Titania den „Esel“ vorsichtig zähmt, wie Kühn das Malheur im Schnelldurchlauf Oberon beichtet – das sind große Momente dieser einfallsreichen und sehr unterhaltsamen Inszenierung. Vom starken Schlussbild werden sie noch mal getoppt. Die Handwerker bringen ihre Tragödie ganz ernsthaft und berührend ins Ziel: Die wahre Liebe und der wahre Shakespeare gehen hier Arm in Arm. Und genau so verabschieden sich auch alle Akteure auf dieser kleinen großen Weltbühne, dicht gedrängt, mit dem ebenfalls aus dem 16. Jahrhundert stammenden Madrigal „Come again, sweet Love“. Und was steht wohl auf den Blättern, die von der Theaterdecke regnen? Bevor der einhellige Jubel des Publikums ausbricht.