In der Reihe "Eine(r) liest" in Gießen begeistert der Schauspieler und Regisseur Christian Lugerth mit Werken Wolfgang Borcherts. Hundert Besucher waren zu den Marktlauben...
GIESSEN. Gießen. "Einer von denen, die nach Hause kommen und doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür." Die Geschichte des Kriegsheimkehrers Beckmann, der versucht, sich das Leben zu nehmen, weil es im Nachkriegsdeutschland keinen Platz mehr für ihn zu geben scheint, ist das bedeutendste Werk des Schriftstellers Wolfgang Borchert. "Draußen vor der Tür" wurde von Borchert selbst als Teil der "Trümmer- und Kahlschlagsliteratur" bezeichnet. Zum Auftakt der Lesereihe "Eine(r) liest" stellte der Gießener Schauspieler und Regisseur Christian Lugerth die Werke des jung verstorbenen Schriftstellers vor, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. Hundert Besucher erlebten die ergreifenden Texte und Veranstalter Uwe Lischper begrüßte die Literaturbegeisterten.
Neben Ausschnitten aus dem Theaterstück hatte Lugerth auch Kurzgeschichten und lyrische Werke des Künstlers mitgebracht. Im Vordergrund stand die Geschichte des aus Sibirien heimgekehrten Unteroffiziers Beckmann, der sich vergeblich müht, die Verantwortung für den Tod der Soldaten seines Zuges jenem Oberst zurückzugeben, der den Spähtrupp befehligt hatte.
"Man wird tierisch. Das macht die eisenhaltige Luft. Aber das faltige Herz fühlt manchmal noch lyrisch", schrieb Borchert in seinem Gedicht "Brief aus Russland". Der Zweite Weltkrieg war für den mit 26 Jahren verstorbenen Borchert prägend. Seine Werke spiegeln an vielen Stellen die Hoffnungslosigkeit der Kriegs- und Nachkriegsjahre. "Dann gibt's nur eins" - Borcherts Appell, sich massenhaft dem Krieg zu verweigern, kam zum Ende der Lesung eindrucksvoll zur Sprache. "Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen, sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins: sag Nein!" "Zur Zeit führt die Menschheit einen Krieg gegen die Natur und da können wir sicher sein, dass wir ihn verlieren werden", sagte Lugerth. Die apokalyptische Situation, in der Borchert seine Werke verfasst habe, sei durchaus mit dem Klimawandel zu vergleichen - auch wenn es die persönliche Not der Protagonisten nicht gebe.
"Unser Leben ist laut. Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns die Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen, heiser geschluchzten Gefühl. Die zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und Ja sagen und Nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv", schrieb Borchert in seinem "Manifest". Lugerth zeigte mit seiner Vorlesekunst, dass diese Sicht auch heute noch von Bedeutung ist. Das Publikum genoss den sonnigen Mittag und applaudierte begeistert.
Die nächste Lesung findet am 15. August um 11.30 Uhr statt. Die Berliner Schauspieler Anette Daugardt und Uwe Neumann gastieren mit ihrem Programm "Matratzengruft" mit Texten von Heinrich Heine. Der Eintritt ist frei.