Journalismus hat die Aufgabe, relevante Debatten zu führen. Bevormundende Spracherziehung ist dagegen nicht unser Auftrag.
. Journalismus muss offen für neue gesellschaftliche Strömungen sein - sonst bräuchte es ihn gar nicht. Wer unorthodoxe Anstöße tabuisiert - auch wenn sie am Anfang nur Minderheiten repräsentieren oder sich niemals durchsetzen werden - würgt wertvolle Debatten ab. Debatten aber müssen offen geführt werden. Und wo sollte Platz für den Abgleich der Argumente zu den Streitthemen unserer Zeit sein, wenn nicht in den Qualitätsmedien?
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Das Thema Geschlechtergerechtigkeit ist ein Dauerbrenner, der mit der Einführung des Frauenwahlrechts nach dem Ersten Weltkrieg nur einen scheinbaren Siegeszug antrat und das mit der Frauenbewegung der Achtzigerjahre noch lange nicht abgeräumt worden ist. Das beweist 15 Jahre nach der Wahl der ersten deutschen Bundeskanzlerin nicht nur das traurige Geschlechterbild in den Vorstandsetagen deutscher Konzerne. Und ehrlicherweise sieht das Bild in den Chefredaktionen und den Chefetagen namhafter Medien nicht viel besser aus. Es bleibt also noch viel zu tun, bis nicht immerfort Jungens nur Jungs berufen. Darüber, ob verbindliche Quoten das Mittel der Wahl sind, kann und muss man streiten. Man sollte sich nur nicht wundern, wenn sie sich angesichts eines betonartigen Verharrungsvermögens immer stärker durchsetzen. Warum sollten Frauen schlechtere Manager sein oder schlechtere Kommentatoren sein, wenn sie längst bewiesen haben, dass sie nicht die schlechteren Politiker sind? Zuweilen bekommt man den Eindruck, wir seien bei diesem Thema im 19. Jahrhundert steckengeblieben.
Die offensichtlichen Defizite in der Geschlechtergerechtigkeit aber lassen sich nicht ohne Weiteres auf die Debatte um eine geschlechtergerechtere Sprache übertragen. Auch diese Debatte muss geführt werden. Deshalb stimmt aber noch lange nicht die These, dass ohne geschlechtergerechte Sprache keine Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen sei. Oder die These, dass unser vermeintlich maskuliner Sprachgebrauch sichtbarer Ausdruck der Geschlechterungerechtigkeit sei. Und auch die These greift zu kurz, man müsse nur die Sprache ändern, dann werde sich schon auch das Bewusstsein ändern. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Lebendige Sprachen verändern sich sehr wohl durch veränderte gesellschaftliche Realitäten. Lebendige Sprachen aber ändern sich nicht durch Federstriche in Form linguistischer Verordnungen.
Die stärksten Argumente gegen die Einführung von Binnen-I ("Liebe LeserInnen") oder das mit einer Kunstpause besser zu sprechende Gender-Sternchen ("Liebe Zuschauer*innen") - zumindest in journalistischen Texten - aber liefert die Sprachwissenschaft selbst. Unsere Grammatik hat sich kein Mensch ausgedacht und sie wurde nicht als Machtinstrument konstruiert. Das gilt auch für das sogenannte generische Maskulinum, um das sich der aktuelle Sprachstreit dreht - also der Lehrer, der Student, der Journalist. Diese Sprachformen haben sich über die Jahrhunderte herausgebildet. Nicht planhaft, nicht funktionalisiert - genauso wenig wie etwa die Stellung des Verbes im Nebensatz. Bengali ist dagegen eine vermeintlich gerechtere Sprache als Deutsch - es kennt nämlich bei den Hauptwörtern gar keinen Geschlechterunterschied. Mehr Geschlechtergerechtigkeit gibt es in Indien oder Bangladesch deshalb noch lange nicht.
Die Lösung liegt auch nicht im Neutralisieren der Sprache. Ein Sprecher ist etwas anderes als ein Sprechender, ein Fahrer ist etwas anderes als ein Fahrender und ein Säugling ist etwas anderes als ein Gesäugter - abgesehen davon, dass solch sperrige Formen nicht nur Reportagen jede Lebendigkeit nehmen würden.
Unsere Aufgabe ist es, den Menschen aufs Maul zu schauen, ohne ihnen nach dem Mund zu reden. Und unsere Aufgabe ist es, Debatten anzustoßen, ohne unsere Leser zu bevormunden - und unsere Leserinnen schon gar nicht.