Einer der wichtigsten Gegenwartskünstler und einer der lautesten Kritiker Chinas spricht im Interview über seine Autobiografie, die er jetzt vorgelegt hat.
BERLIN. Er ist einer der wichtigsten und bekanntesten Künstler der Gegenwart: Ai Weiwei. Jetzt ist seine Autobiografie „1000 Jahre Freud und Leid“ erschienen. Der 64-Jährige spricht unter anderem über die Angst vor einem übermächtigen China, Corona, Berlin, die Ohnmacht der Kunst, und verrät, warum er in Zukunft weniger Kunst machen möchte.
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Ai Weiwei, muss die Welt Angst vor China haben?
Es wäre so, als ob eine Eiche Angst vor einer Birke oder einem Ahornbaum hätte. Es sind einfach unterschiedliche Bäume, die gemeinsam wachsen. Ein Problem wird daraus nur, wenn ein Baum so groß wird, dass seine Krone den anderen Bäumen das Licht nimmt und seine Wurzeln das ganze Wasser aufsaugen. Zwischen den Bäumen herrscht deshalb ein ständiger Kampf. Solange man auf seine eigene Identität vertraut, muss man keine Angst vor diesem Kampf haben. Allerdings: China ist heutzutage nicht nur ein Baum, es ist mittlerweile ein ganzer Wald. Und China pflanzt in Afrika, Südamerika und Europa weiterhin fleißig Bäume. Manchmal kommt es vor, dass eine invasive Art einheimische Arten verdrängt.
Wäre eine von China dominierte Welt eine bessere oder eine schlechtere Welt?
Mittlerweile gibt es auch im Westen viele Menschen, die der Meinung sind, dass es nicht schlecht sein muss, wenn China den Westen dominiert. Sogar die New York Times hat Meinungsartikel veröffentlicht, in denen es heißt: „Vielleicht sollten wir nicht mehr ständig dagegen ankämpfen, sondern Chinas Dominanz einfach akzeptieren.“ Aber was würden wir da akzeptieren? Um wirtschaftlich mit dem Westen gleichzuziehen, hat China in den letzten 30, 40 Jahren all das getan, was der Westen nicht tun durfte. Es hat sich nicht um Arbeitnehmerrechte, die Gesundheit seiner Bevölkerung, die Umwelt, Menschenrechte und die Redefreiheit geschert. Der Westen und China sind so ein Dreamteam geworden. Der Westen liebt es!
Der Westen liebt Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung? Warum glauben Sie das?
Weil der Westen sich keinen besseren Partner als China wünschen kann, um Geschäfte zu machen. Im Westen muss man mit zwei, drei oder fünf Parteien jahrelang diskutieren und kämpfen und erreicht am Ende vielleicht trotzdem nichts. In China kann alles von einem einzigen Führer entschieden werden. In China heißt es: „OK, lasst uns zu Abend essen!“ Und am nächsten Tag ist alles geregelt. Dann kann Volkswagen einfach so eine Fabrik bauen. Dann kann man alles machen!
Wer beherrscht die Corona-Krise besser – China oder der Westen?
Das kann ich nicht beantworten. Der Westen geht rationaler mit der Krise um. Natürlich sind im Kampf gegen Corona im Westen Fehler gemacht worden, aber man hat daraus gelernt. China ist von Anfang an sehr autoritär, militärisch mit der Krise umgegangen. Dort werden immer noch Menschen für 14 Tage weggesperrt, wenn sie positiv getestet wurden. Glauben Sie, dass das für eine moderne Gesellschaft der richtige Weg ist? Im Westen ist die persönliche Freiheit das höchste Recht und die darf auch der Staat nicht nehmen.
Vor zehn Jahren wurden Sie in China wegen angeblicher Steuerhinterziehung festgenommen und saßen 81 Tage in Haft. Hätten Sie Angst, erneut verhaftet zu werden, wenn Sie nach China zurückgingen?
Ginge ich zurück nach China, könnte es jederzeit passieren. Aber vor der Haft an sich hätte ich keine Angst. Selbst während meiner Inhaftierung hatte ich nie Angst.
Wovor haben Sie dann Angst?
Ich glaube nicht, dass sie mich foltern würden. Das würde einfach keinen Sinn machen. Ich bin kein Spion, der unter Folter etwas gestehen oder preisgeben könnte. Ich habe nichts zu beichten (lacht). Meine Kritik war immer offen. Dafür bin ich vielleicht auch zu bekannt. Aber ich fürchte, dass sie mich anders leiden lassen würden.
Wie könnte China Sie leiden lassen?
Indem sie meine Beziehungen zur Realität abschneiden. Indem sie mich in einem Raum isolieren und mich weder meinen Anwalt noch meine Mutter anrufen lassen. Das würde bedeuten, dass das Leben beendet ist, bevor man stirbt. Ich hätte Angst, dass sie dafür sorgen würden, dass meine Stimme nicht mehr gehört werden kann.
Sie haben von 2015 bis 2019 in Berlin gelebt, gearbeitet und gelehrt. Aber in Ihrer jetzt erschienenen Autobiographie „1000 Jahre Freud und Leid“ erwähnen Sie Berlin kaum. Warum?
Ich habe ein Buch über meine schlimmsten Erfahrungen geschrieben. Es geht darin hauptsächlich um China, meinen Vater und mich. Und nicht um Berlin.
Haben Sie gerne in Berlin gelebt?
Nein! Alle mögen Berlin. Ich nicht. Ich mag den Sonnenschein, aber in Berlin sind die Winter kalt und lang. Außerdem: Berlin ist zu dreckig und zu faul. Was ist bloß mit dieser Stadt los? Niemand schneidet dort einen Baum oder kehrt die Straße. Alles ist so kaputt! Dabei gibt es in Berlin doch so viele Migranten: Gebt ihnen einfach ein wenig Geld und lasst sie die Arbeit machen. Aber das passiert nicht! Berlin ist eine Stadt ohne Hoffnung. Man kann doch nicht die drittmächtigste Nation der Welt sein, aber eine Hauptstadt wie ein Dritte-Welt-Land haben! Gucken Sie sich doch nur den Flughafen und die Infrastruktur an! Außerdem gefällt es mir nicht, dass die Taxifahrer in Berlin alle aus der Türkei kommen.
Was für ein Problem haben Sie mit Taxifahrern aus der Türkei?
Dass sie in dritter Generation in Berlin leben und immer noch Taxi fahren. Das ist für mich kein gutes Zeichen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Sie hart über Berlin und Deutschland urteilen. Als Sie vor zwei Jahren von Berlin nach Cambridge gezogen sind, haben Sie über Deutschland unter anderem gesagt, es sei autoritär, fremdenfeindlich, bigott und intolerant. Viele Deutsche empfanden Ihre Kritik als sehr pauschal und ungerechtfertigt.
Niemand mag mich. Aber das mag ich. Denn ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der mich niemand mochte.
Dass Sie in Deutschland niemand mag, stimmt nicht. Als Sie inhaftiert waren, hat die deutsche Regierung sich zusammen mit Künstlern, Menschenrechtlern und Wissenschaftlern vehement für Ihre Freilassung eingesetzt. Viele waren auch deshalb von Ihrem Deutschland-Bashing schockiert. Sind Sie ein undankbarer Mensch?
Nein, ich bin dankbar, für das, was Deutschland für mich getan hat. Aber wenn die Deutschen zu mir sagen. „Wir haben Dein Leben gerettet. Wir haben für Dich bezahlt. Sei gefälligst dankbar“, dann höre ich das nicht gerne. Doch das ist mir nicht nur einmal gesagt worden. Als ich in Berlin gelebt habe, mochte ich es nicht, dass ich in Deutschland als jemand gesehen wurde, der etwas zurückzahlen müsse, weil Deutschland ihn angeblich gerettet habe.
Kann Kunst autoritäre Regime stürzen?
Das glaube ich nicht. Zwar haben autoritäre Staaten wie China Angst vor der Kunst, weil sie im direkten Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit steht. Aber diese autoritären Staaten lassen sich nicht von der Kunst besiegen. Ihre Systeme sind stärker und mächtiger als die Kunst. Genau darum geht es ja auch in meinem Buch.
Was treibt Sie an, Kunst zu schaffen?
Es geht mir um Ästhetik, Moral und Philosophie. Aber ehrlich gesagt: Ich habe keine große Motivation mehr, Kunst zu schaffen.
Warum?
Weil ich genug gemacht habe. Ich bin der meistausgestellteste Künstler der Welt. Niemand hatte mehr Besucher als ich. Andererseits: Es gibt so viele Dinge, die ich noch nie gemacht habe. Ich könnte jeden Tag sterben, und dann würde ich es sehr bedauern, wenn ich mein ganzes Leben lang nur Kunst gemacht hätte.
Wie möchten Sie in Erinnerung bleiben?
Auf meinem Grabstein soll stehen. „Dieser Mann hat gelebt und nichts erreicht.“
Ist das wieder Ironie?
Nein. Was hat ein Mann wie ich schon erreicht? Wenn wir uns die Welt ansehen, sehen wir so viele Menschen, die immer noch ohne Licht in der Dunkelheit leben. Also haben wir alle zu wenig erreicht.
Das Interview führte Philipp Hedemann.