Der Film erzählt die Geschichte des indischen Findelkindes Saroo, das seine verlorene Heimat sucht. Nicole Kidman verkörpert in dem Drama die Adoptivmutter Sue Brierley und ist als beste Nebendarstellerin für einen Oscar nominiert.
Von Stefan Benz
Kulturredaktion Darmstadt
Willkommen bei der neuen Mama: Nicole Kidman als australische Adoptivmutter mit Sunny Pawar als indischem Findelkind Saroo. Foto: Universum
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Saroo lebt bei der großen Stadt Khandra im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh. Aber das weiß er nicht, denn Saroo ist fünf Jahre alt, seine Mutter ist Analphabetin, buckelt im Steinbruch, sein älterer Bruder geht wochenweise als Tagelöhner auf Tour, und der kleine Saroo will auch seine Kinderarbeit verrichten, will einfach dazugehören. So zieht er eines Nachts mit dem Bruder los, ist bald todmüde, soll kurz zurückbleiben, schläft auf dem Bahnhof ein, wacht auf, steigt in einen leeren Zug, schläft wieder ein, und als er abermals erwacht rollt das Schicksal mit ihm von West nach Ost durch den Subkontinent.
Saroo strandet als Straßenkind in Kalkutta. Als junger Mann wird der verlorene Sohn zurückkehren zur Mutter. Darüber hat Saroo Brierley (Jahrgang 1981), der von einer australischen Familie adoptiert wurde, seine Autobiografie "Mein langer Weg nach Hause" geschrieben. Luke Davis hat die Vorlage als Drehbuch von den Achtzigern bis in die nahe Gegenwart chronologisch ausgestaltet, was Regisseur Gareth Davies nutzt, um die Melodramatik des Stoffs zu bändigen.
Wenn Dev Patel als erwachsener Saroo am Ende zurückkehrt ins alte Leben, ist die Rührung natürlich riesig, dann will der Film auch die Empathie des Zuschauers umlenken in mitleidige Spendenbereitschaft für indische Straßenkinder. Der Anfang aber ist auf unverstellte Weise klar, denn da ist der Film ganz nah dran am jungen Saroo, den Sunny Pawar mit großen Augen staunen und erschrecken lässt über diese unfassbare Odyssee. Im Gewusel der Metropole lebt der Kleine als Müllsammler auf Pappkartons, flieht vor Kinderhändlern, gerät an eine sehr nette Frau und einen furchtbar netten Päderasten, bis er schließlich im Waisenhaus landet. Das wird nie weinerlich, denn der Findling hat eine wache Neugier, die nicht nur dem Zuschauer das Herz öffnet, sondern auch den Adoptiveltern Brierley aus Tasmanien.
OSCAR-CHANCEN
Der Film "Lion" ist für sechs Oscars nominiert. Chancen haben Dev Patel und Nicole Kidman als beste Nebendarsteller. Außerdem winken Preise in den Kategorien Bester Film, Drehbuch, Kamera und Filmmusik. (sb)
Da ist eine Kinostunde rum, und der Film auf sicherem Weg. Musterknabe Saroo kommt gut an, sein jüngerer Adoptivbruder Mantosh ist hingegen ein verhaltensgestörtes Sorgenkind. Doch das sind kleine Nöte im Vergleich zum Irrweg des Anfangs. Dev Patel stattet den erwachsenen Saroo nicht nur mit einer samsonartigen Mähne aus, sondern auch mit einem Lächeln, bei dem die Sonne aufgeht. Hotelmanager will er werden, einen Schlag bei den Frauen hat er, und Mutti macht er auch glücklich - Nicole Kidman sieht mit roten Locken nicht nur ihrem alten Ich vor 25 Jahren, sondern tatsächlich auch Sue Brierley sehr ähnlich, wie Fotos am Ende zeigen.
Der Geschmack von frittierten Teigspiralen in Zuckersirup erinnert Saroo schließlich an seine Kindheit, und er fängt an, via Google Earth entlang der Bahnlinien Indien von oben abzusuchen, bis er seine Endstation Sehnsucht erreicht. Dass er Mutters Stecknadel im kontinentalen Heuhaufen tatsächlich gefunden hat, dass die Heimat schließlich nur ein paar Klicks weg war, ist ein Wunder, das der Film nicht recht zu beschwören weiß. Saroo kündigt seinen Job, weil die Suche nach dem eigenen Ich eben harte Erinnerungsarbeit ist. Aber das geht längst nicht so zu Herzen, wie die Geschichte des Kindes vorher an die Nieren ging.
Dev Patel muss also immer etwas glasig lächeln, das Tränchen schon mal bereithalten, damit es beim Zuschauer fließen kann - und gerne auch das Spendengeld. Ein letzter Schuss von der unverwüstlichen Natur des kleinen Saroo ist immerhin für den Nachspann reserviert. Da erfährt man als Schlusspointe, warum der Film "Lion" heißt.
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