Sie kommen nicht aus dem sozialen Brennpunkt, stehen nicht unter der Knute des Vaters oder des Imams. Mélanie und Sonia sind die verlorenen Töchter der französischen Mittelklasse. Eben noch selbstbewusste junge Frauen und strebsame Schülerinnen - dann auf dem Weg in den Dschihad.
Von Stefan Benz
Kulturredaktion Darmstadt
Die verlorene Tochter sucht Nähe: Sonia (Noémie Merlant, links) strebt wieder zurück in den Schoß ihrer Familie, wo Sandrine Bonnaire sie als Mutter mit Sorge und Liebe empfängt. Foto: Neue Visionen
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Sie kommen nicht aus dem sozialen Brennpunkt, stehen nicht unter der Knute des Vaters oder des Imams. Mélanie und Sonia sind die verlorenen Töchter der französischen Mittelklasse. Eben noch selbstbewusste junge Frauen und strebsame Schülerinnen - dann auf dem Weg in den Dschihad.
Mélanie engagiert sich gegen den Hunger in Afrika, übt fleißig Cello und versteht sich gut mit ihrer alleinerziehenden Mutter, die ihr eher eine liberale Freundin ist. Doch nach dem Tod der Oma verändert sich das Mädchen, trägt heimlich den Niqab, schwört der Musik ab und wird schlechter in der Schule.
Die Mutter (Clotilde Courau) denkt, das sei die Pubertät, aber dann ist ihre Tochter fort - für den Islamischen Staat in Syrien.
Sonia ist noch bei den Eltern, doch eines Morgens stürmt ein Sondereinsatzkommando das Kinderzimmer, denn die Tochter gilt dem Staatsschutz als potenzielle Terroristin.
Die Eltern stehen unter Schock, und die Filmemacherin Marie-Castille Mention-Schaar arbeitet mit einem dokumentarisch anmutenden Ansatz auf, was Vater und Mutter entgangen war. Nicht nur hat die Regisseurin und Autorin zum Thema recherchiert, sie bindet auch ihre Gewährsfrau Dounia Bouzar in die Filmhandlung ein, die 2014 eine Beratungsstelle gründete, um Familien Hilfe gegen islamistische Rekrutierungen zu bieten. Damit ist Bouzar eine Figur wie die Titelheldin in Mention-Schaars Film "Die Schüler der Madame Anne", die in einer vermeintlich hoffnungslosen Klasse von designierten Verlierern den Lehrplan zur Charakterbildung nutzt.
Die Regisseurin ist auch im Drama "Der Himmel wird warten" eine Optimistin der Aufklärung, obwohl die Geschichte niederschmetternde Aspekte hat. Naomi Amarger spielt Mélanie als empfindsame Idealistin, deren Schüchternheit sie bisweilen naiv wirken lässt, dabei will sie nur das Richtige und Gerechte tun. Über Facebook verliebt sie sich in einen jungen Mann, der sie seine Königin nennt und zugleich Unterwerfung fordert.
Es ist ein Lehrstück über das Zusammenspiel von Verführungskunst und Verschwörungstheorien. Mélanie ist bald verliebt bis zur Abhängigkeit. Sonia hingegen ist zornig bis zum Wahnsinn, als sie nach gescheiterter Ausreise unter Hausarrest steht.
Noémie Merlant legt furchterregenden Fanatismus in ihren völlig vernagelten Blick. Weder der wütende Vater (Zinedine Soualem), noch die verzweifelte Mutter (Sandrine Bonnaire) dringen durch dieses Visier der Verachtung. Es braucht Dounia Bouzar als Mediatorin, um zu verstehen, dass dies nicht nur eine Irrung der Pubertät ist, dass hier Gehirnwäsche wirkt, dass vor dem islamistischen Terror der antiwestliche Psychoterror steht.
Die Eltern sind bald ebenso erschüttert wie ihre versteinerten Kinder. Marie-Castille Mention-Schaars Film ist ein Appell, zu verstehen statt zu verstoßen und da, wo einem Hass entgegenschlägt, die Umarmung zu wagen. Wenn das gelingen kann, dann in der Familie. Diese Hoffnung verteidigt der Film mit starkem Glauben an die Heilkraft des Humanismus.
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