Frankfurter Städel blickt zurück auf Fotos der 1920er und 1930er Jahre, darunter auch von Nazis veröffentlichte Werke jüdischer Fotografen. Die Grenzen zur Propaganda verwischen.
FRANKFURT. Die beiden Zebras wenden dem Betrachter ihre Hinterteile zu. Doch vor ihren Köpfen steht ein Zaun mit horizontal gespannten Drähten, der damit das Muster der Zebras aufnimmt. Und hinter dem Zaun steht ein weiteres Zebra im Berliner Zoo. Das Spiel der Linien verläuft also in drei Tiefenebenen. Dieses Bild hat Friedrich Seidenstücker im Jahr 1935 aufgenommen, damals einer der gefragtesten Fotografen. Er hatte ein feines Gespür für ausgeklügelte Inszenierungen.
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Seidenstücker war ein Vertreter des „Neuen Sehens“, einer in den 1920er Jahren aufgekommenen Stilrichtung. Damals hatten sich die Fotografen allmählich von der Nachahmung der Malerei emanzipiert und auf ihre technischen Stärken besonnen. Nun versuchten sie, das Ungewöhnliche im Alltag zu entdecken. Man müsse für die künstlerische Arbeit „neu sehen“, so der Autor Per Schwenzen 1929. Das war leichter als früher, da die Kleinbildkamera aufkam, zuerst 1925 die Leica.
Diese Kameras erlaubten schnelle und dynamisch wirkende Fotos, von Ilse Bings Steilblick auf Telefonmasten bis zu Paul Woffs Schattenbildern. Jetzt stellt das Frankfurter Städel mehr als 100 Bilder von 58 Fotografen vor, darunter neben vielen bekannten Künstlern auch etliche unbekannte oder vergessene Namen. „Neu Sehen. Die Fotografie der 20er und 30er Jahre“, so der Ausstellungstitel, basiert überwiegend auf der inzwischen riesigen Städel-Sammlung von 5000 Fotos, vor allem aus der Zeit der Weimarer Republik.
Fließende Grenzen zwischen Werbung und Propaganda
Da die Fotografie damals auch an Hochschulen etabliert wurde, gilt der Ausbildung das erste Kapitel der Schau, gefolgt von Presse- und Dokumentarbildern, der Werbe- und Industriefotografie, der Porträt- und Propagandafotografie. Freilich lassen sich die Themen und Auftragsfelder nie ganz klar scheiden, betont Kristina Lemke, die seit drei Jahren die Fotos betreut und nun die neue Position der Sammlungsleiterin übernommen hat. Wie fließend die Grenzen waren, sieht man an Seidenstücker, der auch unter den Nazis wohlgelitten war – solange er unverfängliche oder amüsante Alltagsbilder lieferte.
Anders als bei Künstlern oder Literaten gab es bei Fotografen keine Zäsur, obwohl sie nun Mitglied der Reichspressekammer sein mussten. Es gab inhaltliche, aber keine gestalterischen Einschränkungen, da auch die Nazis das Massenmedium selbst nutzten. Folglich war das dynamische Sehen mit kühnen Nah-, Auf- und Untersichten weiterhin erlaubt, um suggestive Botschaften zu vermitteln. „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, so der Werbefachmann Fred J. Barnard schon 1921. Die klug austarierte Städel-Schau belegt das an allen Genres, bis hin zu Werbe- und Propagandafotos. Freilich wirken heute manche Bilder arg penetrant, etwa Max Göllners um 1935 datiertes Foto eines Schlossers, der einen Gartenzaun neu verschweißt, gehalten von einem Mann in Naziuniform. Die Bildunterschrift trieft nur so von billiger Propaganda: „Hilfreiche Hände greifen zu, wenn ein Stück des Gartenzaunes gelöst ist und umstürzen will.“ Ungleich subtiler ging etwa Paul Wolff mit seinem Bild des Zeppelin-Luftschiffes von 1935 vor. Das Foto könnte auch in den drei Kapiteln Presse-, Werbe- oder Industriefoto stehen.
Willy Zielke indes wurde schamlos ausgenutzt. Er porträtierte 1935 einen Diskuswerfer in Nahansicht, das Gesicht mit den Locken stark betont, ähnlich wie der glänzende Oberkörper. Der Sportler schaut aus dem Bild, wir aber schauen zuerst auf ihn und den Diskus, folgen dann seinem Blick in die Ferne – eine Bildästhetik, die den Mann überhöht wie einst die antiken Helden. Solche Fotos gingen wenig später um die Welt, als 1936 die Olympischen Sommerspiele in Berlin stattfanden. Zielke jedoch erlitt 1938 einen Nervenzusammenbruch und wurde in der Psychiatrie entmündigt. Die Regisseurin Leni Riefenstahl veröffentlichte seine Fotos einige Jahre unter ihrem Namen. Das war kein Einzelfall. Jüdische Fotografen wurden diffamiert, ihre Bilder aber unter fremdem Namen gedruckt, wie das Städel eindrucksvoll an der Modefotografin Yva belegt.