Globetrottern ist das Gewirr oberirdischer Stromleitungen, die wie regellos zwischen Masten und Hauswänden hin- und herspringen, aus dem Straßenbild ferner Metropolen bekannt....
WIXHAUSEN. Globetrottern ist das Gewirr oberirdischer Stromleitungen, die wie regellos zwischen Masten und Hauswänden hin- und herspringen, aus dem Straßenbild ferner Metropolen bekannt. Auch im indischen Mumbai steckt darin die elektrische Infrastruktur der Stadt, diese Leitungen sorgen - trotz wilder Abzapfpunkte und häufiger Stromausfälle - für den Fluss von Energie und Information.
Von dieser Situation, die solide deutsche Elektrotechniker in eine Herzattacke treiben würde, fühlte sich Sibyll Ariane Keller bei ihren ausgedehnten Indienreisen visuell inspiriert. Zuletzt war sie im Januar dieses Jahres dort. Die Kabel boten Keller dabei nicht nur Motive für eigene Fotografien und Gemälde. Sie inspirierten sie auch zur Gestaltung eines interdisziplinären Kunstprojekts, das von Malerei und Zeichnung über Skulptur und Literatur bis in audiovisuelle Gefilde reicht.
Vor allem jedoch ist es interkulturell: Der Heppenheimer Bildhauer Georg Friedrich Wolf vermittelte die Bekanntschaft zur Mumbaier Künstlerkollegin Meenakshi Nihalani, die Sibyll Ariane Keller dann zu einem Arbeitsaufenthalt nach Darmstadt eingeladen hat. Zum Trio wurden sie durch die Lyrikerin Ursula Teicher-Maier, die als Stammmitglied der Kunstfabrik im Bahnhof Wixhausen dem Projekt einen Ausstellungsort verschaffen konnte. Was dort geboten wird, erschöpft sich nicht im visuellen Reiz labyrinthischer Kabelgeschlinge.
Das Ausgangsmotiv wird zur facettenreichen Metapher für das Spannungsfeld zwischen Chaos und Ordnung, in das sich jeder begibt, der auch nur einen Fußzeh in den allfälligen digitalen Datenstrom taucht. In ihrem - auf eine Wandtafel gedruckten - Gedicht "Den Hades erkunden mit den Haaren" sagt Teicher-Maier über die Bewohner der Unterwelt: "Sie erklären sich das ganze Elend hier unten mithilfe der Ziffern Null und Eins / Wenn sie nachts heimlich über flimmernde Zahlenkolonnen wachen."
In einer Sprache, die Profanes und Mythisches zur unauflöslichen Einheit verwebt, scheint die Lyrikerin darauf hinzuweisen, dass die unterirdischen Kabel in puncto Rätselhaftigkeit hinter den oberirdischen nicht zurückstehen. Bei Sibyll Ariane Keller sind bereits die Titel ihrer zwei großen Quadratleinwände "Das laute Leben" und "Das eigene innere Selbst" verräterisch. Die Kabelstränge, die wie Lianen- oder Wurzelwerk über die Flächen wuchern und dabei weder vor Landschaft, Architektur, Schrift noch vorm Menschen Halt machen, schließen Gesellschaftliches und Psychologisches, Außen- und Innenwelt kurz.
Meenakshi Nihalani scheint mit den traditionellen Materialien von heller Leinwand und schwarzem Faden sowie der altmodisch-zeitintensiven Technik des Zurechtschneidens und Vernähens das gemeinsame, eher mit Hektik besetzte Thema durch Entschleunigung zu unterlaufen. Herausgekommen ist ein Objekt, dessen organisch beginnende Form sich nach Aufwärtskrümmung zur Spitze verjüngt, auf der eine silbrige Maschendraht-Kugel balanciert. Ein stilisierter Seehund aus dem Zirkus, den Ball auf der Schnauze? Nein, der Urheberin liegt die Assoziation zur Zunge näher.
Sie hat das Gebilde, das mit Stahlringen und -drähten unter der Decke platziert wurde, als ironische Hommage konzipiert an das, was sie "on the tip of my tongue"-Syndrom nennt: Bisweilen liegt das richtige Wort auf der Zunge, aber wir kommen nicht drauf, weil uns das fixe Googeln per Handy des eigenständigen Erinnerns entwöhnt hat.