Wolfgang Seeliger dirigiert Bachs Johannes-Passion mit szenischen Überraschungen
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Das nächste Abonnementskonzert des Konzertchors ist für 5. Juni angekündigt, ebenfalls im Darmstadtium. Dann dirigiert Wolfgang Seeliger das Oratorium "Canto general" von Mikis Theodorakis, gemeinsam mit den Solisten Maria Farantouri und Petros Pandis, die 1972 schon bei der Uraufführung des Werkes gesungen haben. Der Konzertchor ist auch Veranstalter der Darmstädter Residenzfestspiele, die am 22. Juli beginnen und unter dem Motto "Was ihr wollt" 400 Jahre Shakespeare feiern.
DARMSTADT - Wolfgang Seeliger hat ja schon eine Menge ungewöhnlicher Dinge getan. Aber Bachs Johannes-Passion ohne einen Chor, ohne seinen Konzertchor aufzuführen, geht entschieden zu weit. Seeliger hebt die Arme, gönnt sich eine lange Pause der Konzentration, dann gibt er den Einsatz, und das wie immer auffallend gutgelaunte Beethoven-Akademie-Orchester aus Krakau spielt die ersten Takte des Eingangschores.
Da gehen im großen Saal des Darmstadtiums die Türen auf, und der Chor betritt singend die Bühne. Das geht flott, und schon bei der zweiten Textzeile umringen die Sänger im Halbkreis das Orchester, nicht uniform auf den Dirigenten ausgerichtet und auch nicht nach Stimmgruppen geordnet. Sondern wie die Momentaufnahme einer Gesellschaft, die in das Karfreitagsgeschehen hineingeworfen wird, an ihm teilhat, es erlebt und sich im Spiel erzählt, und die ihre eigene Haltung zur biblischen Erzählung findet.
Genau das ist die Wirkungsweise von Bachs Oratorium, die der Konzertchor mit der Choreografie seines Karfreitagskonzertes deutlich macht. Die Sänger bleiben den Abend über in Bewegung, mal formieren sie sich in Stimmgruppen, um der Chorfuge "Wir haben ein Gesetz" die nötige räumliche Wirkung zu geben, mal stehen sie frontal zum Publikum, um den Chorälen auch durch ihre persönliche Präsenz Eindringlichkeit zu verleihen, dann wieder stehen einzelne Sänger zwischen den Orchestermusikern, um Chor-Einwürfe in den Klang einzuflechten. Und zum Beginn des zweiten Teils gelingt ihnen die Überraschung, mit dem Chor "Christus, der uns selig macht" das Publikum von hinten gleichsam zu überfallen und vom Klang zu umschließen.
So legt die Aufführung die Wirkungsweise von Bachs Komposition bloß. Für die Sänger ist es eine Herausforderung, und sie haben ziemlich lange daran geübt, singend durcheinander zu laufen. Das hat sich gelohnt: Die Abstriche an Präzision sind minimal, der Chorklang gewinnt durch die Aufspaltung der Stimmgruppen an Farbigkeit. So deutlich auf die Zuhörer bezogen hört man diese Passion selten. Am ehesten in der Abstimmung mit dem Orchester waren leichte Unschärfen auszumachen. Aber die polnischen Musiker bewährten sich erneut als aufmerksame und klangsensible Begleitung, die auch die vielfältigen solistischen Aufgaben kompetent erfüllen kann.
Und Wolfgang Seeliger ist ein Tüftler am Detail, das Teil seiner musikalischen Erzählung wird. Hier eine überraschende Phrasierung, dort ein harter Kontrast, dann wieder eine spannungsvoll gedehnte Pause: Es ist, als stelle der Dirigent Wegweiser auf, an denen sich die Aufmerksamkeit entlang bewegen soll.
Am deutlichsten wird das beim Einsatz des Chores. Vor zwei Jahren hatte Seeliger am gleichen Ort mit der Matthäus-Passion gezeigt, wie man die Choräle neu ausbuchstabieren kann. Diese Gründlichkeit setzt er bei der älteren Johannes-Passion konsequent fort. Wenn er die Ausformulierung des einzelnen Wortes höher schätzt als die Linie, schiebt sich der Stilwille bisweilen zu sehr nach vorne. Aber Seeligers Interpretation bleibt stimmig. Vor allem nimmt sie den Zuhörer mit, als wolle sie durch die Aufführung das Werk erklären. Und neben dem Chor und dem aufmerksam reagierenden Orchester hat er Solisten, die diesem Weg folgen. Die Sopranistin Verena Gropper zum Beispiel, in der zweiten ihrer beiden Arien stärker, in der sie mit raffinierten Verschiebungen der Betonung arbeitet und das o der Zeile "Dein Jesus ist tot" mit druckvollen Kraftstößen auflädt. Die Arie "Es ist vollbracht" hat man selten so eindringlich gehört wie von der Altistin Amira Elmadfa, die vor ihrem ersten Einsatz eine große Pause setzt, den Tenorpart absolviert Theodore Browne mit geschmeidiger Stimme, die noch ein wenig mehr Klangdifferenzierung vertragen könnte.
Der Bassist Werner Volker Meyer ist vor allem in den dramatisch akzentuierten Pilatus-Sätzen stark, in denen er die Zerrissenheit dieser Figur offenbar macht. Timon Führ singt die Christus-Worte markant und klangschön. Und mit seiner klugen Deklamation der großen Evangelisten-Partie ist Mark Adler ein Rückgrat von Seeligers Konzept, zugleich Teil einer Aufführung, deren Eindrücke über das Oster-Wochenende hinaus nachwirken.