Wie tickt der Wähler? Ingo Hamm, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt hat repräsentative Daten von 4000 Bundesbürgern analysiert, die Auskunft...
DARMSTADT. Wie tickt der Wähler? Was die Parteien kurz vor der Bundestagswahl brennend interessiert, hat ein Professor der Hochschule Darmstadt mit einer neuen Methode erforscht. Der Gesellschaftswissenschaftler Ingo Hamm hat repräsentative Daten von 4000 Bundesbürgern analysiert, die Auskunft über ihre Werthaltungen gegeben hatten. Diese Daten wertete Hamm mittels einer "lernenden Künstlichen Intelligenz" aus. Was das Superhirn besser macht als die menschlichen Wahlforscher und was die Parteien daraus lernen könnten, sagt Hamm im ECHO-Interview.
Herr Hamm, sind wir Wähler wirklich so berechenbar, wie Sie behaupten? Anhand von nur 15 Kernfragen schließt Ihr Analyse-Programm auf die Partei, der wir nahe stehen.
Ja, das war eine der Überraschungen bei diesem Projekt. Sehr wenige Werthaltungen reichen aus, um Aussagen zu treffen, welcher Partei unsere Sympathien gehören. Wir ticken wahrscheinlich einfach, was Parteien angeht. Viele Menschen fühlen sich offenbar überfordert von der Komplexität mancher Themen und äußern ihre Verdrossenheit. Entsprechend reduzieren sich deren Präferenzmuster. Das scheint mein Ergebnis zu belegen. Man kann die Zahl dieser Aussagen sogar noch weiter reduzieren, dann wird das Ergebnis nur etwas unschärfer.
Was macht Ihr Rechenhirn, das auf Basis Künstlicher Intelligenz arbeitet, anders als die menschlichen Umfrage-Steller?
Ich versuche, nicht direkt nach der Partei-Sympathie zu fragen. Viele Leute sind in einer Umfrage-Situation einfach unentschlossen, sie wissen nicht so genau, was sie wollen oder trauen sich nicht, es öffentlich zu sagen. Stattdessen verwende ich Antworten zur Werthaltung - also Aussagen darüber, wie ich im Leben denke, fühle und handle.
Man gibt lieber die sozial erwünschte Antwort; kaum einer gibt zu, AfD zu wählen.
Ja, da trauen manche Sympathisanten ja schon den Umfragen nicht, weil sie das für ein Instrument der sogenannten Lügenpresse halten. Aber das ändert sich gerade. Die AfD-Wähler tragen ihre Haltung inzwischen mehr und mehr selbstbewusst nach außen.
Sie bleiben trotzdem schwer auszurechnen. Bei fast allen Landtagswahlen der jüngeren Zeit ließen die Wahlerfolge den Rest der Parteien staunen.
Ähnlich bei Trump, ähnlich bei Brexit. Solche Radikalisierungs-Tendenzen wollen die meisten Menschen bei Umfragen nicht zugeben. Mancher Unentschlossene wird erst in der Wahlkabine mutiger, wenn er schnell sein Kreuz machen muss und sich dann traut.
Welche überraschenden Ergebnisse hat Ihr Rechenhirn geliefert?
Mich hat überrascht, wie stark das Thema "soziale Gerechtigkeit" Wähler quer durch alle Parteien bewegt.
Pech für die SPD...
Ja, das kann man so sehen. Viele Bürger sind enttäuscht, fühlen sich sozial abgehängt - und zwar so stark, dass sie sich nicht mehr an die SPD wenden, sondern an die Linke oder an die AfD. Mit ihrem einstigen Markenkern "soziale Gerechtigkeit" kommen die Sozialdemokraten also gar nicht mehr überall an, beziehungsweise sie haben das Thema nicht mehr gepachtet. Bei den SPD-Sympathisanten spielt dagegen eine multikulturelle Offenheit eine größere Rolle, das hat mich ebenfalls überrascht. Dem Satz "Der Islam gehört zu Deutschland" stimmen unheimlich viele SPD-Anhänger zu.
Bei den Grünen-Fans dagegen hat soziale Gerechtigkeit keinen so hohen Stellenwert. Bio-Produkte zu kaufen steht deutlich höher im Kurs.
Richtig, das Thema "Natürlichkeit" ist fundamental wichtig für diese Wählerschaft. Man müsste der Partei also raten, sich wieder stärker auf Umwelt und Natur zu konzentrieren und die Nebenthemen weniger zu betonen. Das passiert aber aktuell nicht. Wenn man sich die Wahlplakate anschaut, da geht es um alles, von sozialer Gerechtigkeit bis zu Wirtschaftskompetenz. Das ist nach meiner Analyse nicht das, was bei den Grünen-Fans ankommt.
Die Spitzenkandidatin der Darmstädter Grünen, Daniela Wagner, wirbt mit dem Slogan "Frische Luft"...
Könnte passen. Eine gute Zuspitzung. Wenn das Thema denn relevant genug ist... aber eigentlich müssten die Grünen mit ihrer Wahlwerbung jetzt viel massiver auf das Diesel-Thema gehen. Aber das sehe ich nirgends.
Ihr Superhirn hat sehr viele junge Bürger als potenzielle CDU-Wähler rausgefiltert - welche Werte verbinden die mit den Konservativen?
Keine der alten ideologischen Werte, sondern der gnadenlose Pragmatismus, den Angela Merkel als Kanzlerin immer wieder an den Tag legt. Sie praktiziert ja fast eine Art von Management-Stil. Sie packt einfach die Themen an, die auf der Tagesordnung stehen. Und zwar ohne sich zu sehr von alten Traditionen und Parteigedöns leiten zu lassen. Das kommt bei vielen jungen Leuten gut an.
Jetzt können sich die Parteien Ihre Ergebnisse nehmen und die Wahlkampf-Floskeln noch mal weiter vereinfachen. Was haben die Bürger davon?
Also, ich möchte mit meinem Programm jetzt nicht eine Art Super-Wahlomaten bauen, wo man sich dann nur mit wenigen Fragen seine Wahlempfehlung ausrechnen lassen kann. Politik bleibt eine komplexe Sache. Ich würde den Wählern eher ans Herz legen, sich genauer mit den Parteien, den Politikern und ihren Programmen zu beschäftigen.
Für die Bundestagswahl ist die Künstliche Intelligenz aber nicht zu gebrauchen, sagen Sie - wieso?
Weil das tatsächliche Wahlverhalten bisher nicht in meinen Werten dargestellt ist. Bisher ging es nur um Grundlagenforschung, die mit Künstlicher Intelligenz rausfinden sollte, wie der Wähler generell tickt. Nicht zu vernachlässigen ist auch der Einfluss der Kandidaten. In wie weit die eine Prognose doch noch mal drehen können, das ist schwer auszurechnen. Dafür müsste man das Rechnerhirn weiter mit Daten füttern. Die Künstliche Intelligenz ist ja ein lernendes System.
Das Interview führte Thomas Wolff.