Studie zu körperlichen Reaktionen auf Gedichte

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Der Wissenschaftler Eugen Wassiliwizky vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt hat die menschlichen Emotionen gegenüber Poesie erforscht. Dafür hat er...

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FRANKFURT. Wie wirken Gedichte auf Menschen? Was hat es mit der Macht der Poesie auf sich? Eugen Wassiliwizky vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt ging dem Gänsehaut-Faktor nach. Das Ergebnis: Wenn Schauer über die Haut laufen und sich die Haare aufstellen, sind gleichzeitig positive und negative Emotionen im Spiel. Die Studie wurde im wissenschaftlichen Journal Social, Cognitive and Affective Neuroscience veröffentlicht.

Für die Studie wurden körperliche, neuronale und verhaltensrelevante Reaktionen auf bewegende Gedichte untersucht. Das Forschungslabor sah wie ein Wohnzimmer aus. "Ich wollte eine möglichst gemütliche Atmosphäre herstellen, mit Sofa, Bildern und Pflanzen", erzählt Eugen Wassiliwizky. Den 27 Probanden wurden ihre Lieblingsgedichte vorgelesen und Gedichte, die sie zum ersten Mal hörten, währenddessen trugen sie Elektroden auf Gesicht und Händen. Gemessen wurden dabei Hautleitwert und Herzrate sowie die Aktivität zweier Gesichtsmuskeln, die positive und negative Emotionen anzeigen. "Der eine Muskel ist fürs Stirnrunzeln, der andere fürs Lächeln zuständig", so Wassiliwizky. Eine spezielle Kamera, die Goosecam, registrierte zudem den Moment, wenn ein Gedicht die Versuchspersonen so stark bewegte, dass Gänsehaut entstand.

Die Gedichte hatte Wassiliwizky zuvor von Schauspielern in einem Tonstudio aufnehmen lassen: "Um möglichst starke Reaktionen auf die poetischen Werke zu bekommen, musste alles bis ins Detail stimmen." War etwa einem Studienteilnehmer die Stimme eines Vortragenden unsympathisch, wurde das Gedicht von einem anderen Sprecher neu eingesprochen.

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Wassiliwizky und seine Kollegen fanden heraus, dass die Gänsehaut-Momente von Gesichtsausdrücken begleitet werden, die auf negative Emotionen schließen lassen. In denselben Momenten war jedoch auch das Belohnungszentrum im Gehirn aktiv. Das heißt, die Studienteilnehmer empfanden gleichzeitig Lust und Leiden. Diesen gemischten Gefühlszustand hat bereits Friedrich Schiller (1775-1854) vor 225 Jahren als Rührung beschrieben. "In unserer Studie fanden wir nun die physiologische Evidenz für Schillers Definition", erläutert Wassiliwizky: "Rührung ist eine positive Emotion, bei der auch negative Komponenten mitschwingen."

Ein Gedicht, das Leiden und Lust vereint - und das etwa ein Drittel der Versuchsteilnehmer als eines ihrer Lieblingsgedicht e gewählt hatte - ist die Todesfuge des Lyrikers Paul Celan (1920-1970), in dem er die Verfolgung und Tötung von Juden im Nationalsozialismus thematisiert. "Ein schreckliches Thema wird da in Form einer Fuge, die in Sprache verwandelt wird, den Lesern vermittelt. Und das auf eine sehr bewegende Art", sagt Wassiliwizky.

Die Studie verrät auch etwas über die Mechanismen der poetischen Sprache. Beispielsweise häufen sich die bewegenden Momente am Ende einzelner Verse, Strophen oder am Ende von Gedichten. "Wir haben etwa 100 Gedichte auf die Endlastigkeit untersucht", sagt Wassiliwizky. Gedichte, die im Versmaß geschrieben sind, also in poetischen Metren, bauten starke Erwartungshaltungen auf. Das Vorhersagesystem im Gehirn prüfe kontinuierlich, ob ein Gedicht die Erwartungen, die es aufbaut, erfüllt oder verletzt. "Dichter wissen offenbar mit solcher Kraft auf der Klaviatur unserer Gefühle und Erwartungen zu spielen, dass sie uns vor allem am Ende von Spannungsbögen einen Schauer über den Rücken laufen lassen können", beschreibt der Wissenschaftler die Kraft der poetischen Sprache.

Schade nur, dass Poesie im Alltag so wenig Raum hat. "Wer liest schon Gedichte in der Freizeit?", fragt Wassiliwizky. Er hofft, dass die Ergebnisse der Studie dazu beitragen, eine Diskussion darüber anzuregen, wie Gedichte im schulischen und erzieherischen Kontext verwendet werden können. Kinder, so seine Beobachtung, liebten die wiederkehrenden Muster in den Versen. "Ich glaube, dass Kindern und Jugendlichen in der Schule oft der Spaß an der poetischen Sprache verdorben wird, weil Interpretationen und formale Aspekte in den Vordergrund gestellt werden", erklärt der Wissenschaftler. Um die Macht der Poesie zu entdecken, sei eine andere Herangehensweise empfehlenswert: "Man muss Gedichte wie jedes andere Kunstwerk auch, erfühlen und erst danach die analytische Brille aufsetzen."