Das Amtsgericht Darmstadt hat vielfältige Aufgaben und steht...

Organe der Rechtspflege: Oberstaatsanwältin Susanne Spandau und Amtsgerichts-Präsident Markus Herrlein, hier als Richter tätig, vor einem Prozess im Gerichtssaal am Darmstädter Mathildenplatz.  Foto: Andreas Kelm  Foto: Andreas Kelm

Drei große Kunststoffboxen mit Akten stehen im Büro des Richters. Viel Lesestoff, schätzungsweise anderthalb Regalmeter. Das ganze Paket ist Grundlage für einen Prozess,...

Anzeige

DARMSTADT. Drei große Kunststoffboxen mit Akten stehen im Büro des Richters. Viel Lesestoff, schätzungsweise anderthalb Regalmeter. Das ganze Paket ist Grundlage für einen Prozess, sein Inhalt befasst sich mit einer Angeklagten aus Langen, 39 Jahre alt. In etwa 200 Fällen soll sie im Internet auf Einkaufstour gegangen sein, ohne zu bezahlen, und die erhaltenen Produkte anschließend wiederum online versilbert haben.

Organe der Rechtspflege: Oberstaatsanwältin Susanne Spandau und Amtsgerichts-Präsident Markus Herrlein, hier als Richter tätig, vor einem Prozess im Gerichtssaal am Darmstädter Mathildenplatz.  Foto: Andreas Kelm  Foto: Andreas Kelm
Ohne Papier geht es (noch) nicht: Ein Berg von Akten zu anhängigen Fällen auf einem Richtertisch im Amtsgericht.Foto: Andreas Kelm  Foto: Andreas Kelm

Falls die Beweislage klar ist, würde die Beschuldigte sich selbst einen Gefallen tun, indem sie ein Geständnis ablegt. Das bringt beträchtlichen Strafnachlass und spart eine Menge Zeit. Aber die Frau schweigt eisern.

Also muss die Justiz ihr jeden einzelnen Fall unwiderlegbar nachweisen. Die Zeugen, also die geprellten Versender, sind über ganz Deutschland verteilt. Jeder muss gerichtlich vernommen werden, hinzu kommt das Studium des Beweismaterials in den Akten, das im Prozess verlesen werden muss. Viele Juristen werden damit über Tage und Wochen beschäftigt sein. Lohnt sich der Riesenaufwand wegen der Betrügereien, wegen einer möglichen Haftstrafe von wenigen Jahren?

Anzeige

Markus Herrlein blickt erstaunt angesichts dieser Frage. „Unser Gesellschaftssystem“, erklärt der Richter in dem Betrugsfall, „ist so aufgebaut, dass Gerichte die Entscheidung über Recht und Unrecht treffen. Selbstjustiz ist verboten. Daraus folgt aber auch, dass der Staat die Pflicht hat, Straftaten aufzuklären. Der Rechtsfrieden muss uns das wert sein.“ Und was den großen Aufwand betrifft: „Die Geschädigten sehen das wahrscheinlich anders.“ Also wird das Verfahren durchgezogen, Geständnis hin oder her.

Manchmal gibt es auch gar keine Geschädigten. Etwa im Fall eines Rentners, gegen den an einem Vormittag Ende August verhandelt wird. Der 64-Jährige hatte in seinem Haus in Alsbach-Hähnlein neben diversen angemeldeten Gewehren auch eine unregistrierte Pistole aus Weltkriegszeiten samt Magazinen aufbewahrt – in einem Stromverteilerkasten, eingewickelt in ein Schaffell. Seine Exfrau hatte dies der Polizei gemeldet.

Der Angeklagte erklärte den Beamten zunächst, die Waffe habe seinem Bruder gehört; dieser hatte wenige Wochen zuvor in einem Familiendrama erst seine Mutter und dann sich selbst erschossen. Pech für den Rentner, dass die Polizei an der Waffe ausschließlich seine genetischen Spuren fand.

Noch in der Verhandlung am Amtsgericht verbreitet die Verteidigerin die Version des 64-Jährigen, er habe mit der Pistole nichts zu tun gehabt. Dieses Prozessverhalten kommt bei Richter Herrlein nicht gut an. Die Beweislage sei eindeutig, die Nennung des toten Bruders als Waffenbesitzer eine „erkennbare Schutzbehauptung“.

Anzeige

Angesichts des unterbliebenen Geständnisses „finde ich kaum Punkte, die zugunsten des Angeklagten sprechen“, sagt Herrlein. Immerhin, der Mann ist nicht vorbestraft. So kann das Urteil – ein Jahr Haft wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz – zur Bewährung ausgesetzt werden. Der Mann muss zudem 2400 Euro an eine wohltätige Einrichtung zahlen.

„Ich bin ganz bewusst Amtsrichter geworden“, sagt Herrlein zurück in seinem Büro. „Da ist man am dichtesten am Bürger dran.“ Seit genau zehn Jahren amtiert er zugleich als Präsident des Amtsgerichts Darmstadt. Für den 59-Jährigen ist das Gericht mit dem Hauptsitz in einem repräsentativen Gründerzeitgebäude am Mathildenplatz ein „großer Gemischtwarenladen“.

Die Bezeichnung ist nicht aus der Luft gegriffen. Öffentlichkeitswirksam sind vor allem Strafsachen, die am Amtsgericht als erster Instanz verhandelt werden – wie die eingangs geschilderten Fälle. Über solche Verfahren berichtet zuweilen auch die Presse. Allerdings werden schwere Verbrechen, bei denen die Straferwartung über vier Jahren liegt, von vornherein am benachbarten Landgericht verhandelt.

Aber auch Bürger, die nie in den Verdacht einer Straftat geraten, können mit dem Amtsgericht zu tun bekommen. Etwa im Rahmen eines Zivilprozesses. Klassische Nachbarschaftsstreitereien – etwa um die Höhe des Gartenzauns – machten dabei nur einen Bruchteil der jährlich etwa 4000 Fälle aus, erklärt Dr. Günther Ganster, Leiter der Zivilabteilung am Amtsgericht. Weitaus häufiger würden Wohnungsmietsachen verhandelt. Auch mit Verkehrsunfällen, Zahlungsklagen oder Versorgungssperren (etwa mit Strom, Gas oder Wasser) befassen sich die elf Richter für Zivilsachen öfters.

Und wer nun gar nicht verklagt wird und auch niemanden verklagen mag, der kann es immer noch mit dem gleichfalls beim Amtsgericht angesiedelten Familiengericht zu tun bekommen – etwa im Fall einer Scheidung. Für Zwangsvollstreckungen ist das Amtsgericht auch zuständig. Und wer einen Grundbucheintrag ändern, ein Testament verwahren, eine Erbschaft antreten, einen Verein oder ein Unternehmen ins Register eintragen will, muss sich dafür ebenfalls an Abteilungen des Amtsgerichts wenden.

Mehr Personal wäre wünschenswert

Rund 330 Mitarbeiter beschäftigt das Gericht. Sein Jahresetat liegt bei zwölf Millionen Euro. Genügend Geld für die Erfüllung aller Aufgaben? Herrlein pustet durch: „Wir erledigen unsere Arbeit noch“, sagt er dann. „Natürlich würden wir uns zusätzliches Personal wünschen, um uns noch intensiver mit Einzelfällen beschäftigen zu können.“

Wachsende Respektlosigkeit im Umgang mit staatlichen Organen, wie sie vor allem von Polizeibeamten festgestellt wird, hat die Gerichtssäle noch nicht auf breiter Front erreicht. „Respektloses Verhalten bekommt man als erfahrener Richter in den Griff“, sagte der Gerichtspräsident. Probleme gebe es eher mit bösen Mails und Briefen, die bis zur versuchten Nötigung oder Erpressung reichen.

Wer mit einem Urteil des Amtsgerichts nicht zufrieden ist, kann dagegen Berufung einlegen. Dann landet der Fall am Landgericht. Der Impuls, in die nächste Instanz zu gehen, ist verständlich. Dass aber eine Entscheidung der Berufsrichter nicht einfach so gekippt werden kann, müssen Beschwerdeführer oft erfahren – etwa die junge Frau, deren Fall ebenfalls an einem Augusttag am Landgericht verhandelt wird.

Gegen einen Strafbefehl über 90 Tagessätze hat die 26 Jahre alte Studentin Berufung eingelegt, die im Rodgau ohne Führerschein am Steuer erwischt worden war. Schönheitsfehler der Berufung: Die Rechtsanwältin der Studentin muss einräumen, dass sich die 26-Jährige seit dem Amtsgerichts-Prozess im vorigen November zwei weitere Strafbefehle wegen Fahrens ohne Führerschein eingehandelt hatte.

Angesichts dieser Sachlage und eines offenkundigen Alkoholproblems der Studentin empfiehlt das Landgericht dringend, die Berufung zurückzuziehen. Das geschieht dann auch: Nach zweieinhalb Minuten ist die Hoffnung auf ein milderes Urteil zerstoben.